Andreas Kurz: Leseprobe - Andreas Kurz - Bild und Text

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Andreas Kurz

Substanzen
oder: Die Chemie muss stimmen


Diese Mittel wirken ja nicht so schnell. Es dauert, bis man etwas merkt. Sie schleichen sich an, lullen dich ein, bis du glaubst, es wäre ganz normal. Mir fiel es eigentlich erst auf, als sie mich schon so gut wie im Sack hatte. Samstag Abend, ich saß auf der Couch und es dämmerte mir irgendwann, da doch tatsächlich gerade einer alternden Sängerin zu lauschen, die ihre Hängebacken über griechische Sonnenuntergänge wackeln ließ. Als erwachte ich aus einem diffusen Nebel, schälten sich die Konturen einer seltsamen Welt aus dem Nichts. Ich bemerkte, eine Tasse Tee in der Hand zu halten, ich schnupperte, Fencheltee, ein Holzstäbchen Kandiszucker schwamm darin. Über meine Beine breitete sich eine braun und ocker gemusterte Wolldecke, Rauten und Linien, darauf lag die Fernsehillustrierte, aufgeschlagen, erstes und zweites Programm, öffentlich-rechtlich, die ganz harte Nummer.


Meine Frau, die, wie ich mich plötzlich erinnerte, irgendwann nur noch Bärbel genannt werden wollte, strickte und lächelte mich an.

„Alles wird gut", sagte sie zu mir mit einem bis an die Grenze zur Blödsinnigkeit sanften Blick. Sie ergänzte, ich könne ganz unbesorgt sein. Es sei doch sehr gemütlich so. Kuschelig. Sie zwinkerte mir zu. Aber da spürte ich längst ihre Panik, ihre Augen irrten jetzt durch den Raum, als suche sie nach etwas, was sie übersehen haben könnte.

„Was soll das hier?"

Ich befreite mich von der Decke, die Illustrierte rutschte zu Boden. Ich trug einen grünen, wattierten Frotteeoverall mit Handtellergrossen rosa Knöpfen und Osterhasenmotiven darauf. Und ein gestricktes Mützchen.

„Was soll schon sein?", druckste sie herum, das schlechte Gewissen wie eine Blinkleuchte auf der Stirn. Ich öffnete den ersten Knopf unter meinem Kinn. Unter dem Overall war ich nackt, die Haut glänzte speckig nach Babyöl.

„Hier stimmt doch etwas nicht", stieß ich hervor.

„Was du nur immer hast."

Ich deutete zum Fernseher. „Ja aber … Das ist ein scheiß Programm. Warum schalte ich nicht um? Warum hast du überhaupt die Fernsteuerung? Und ich trinke niemals Tee, ich hasse dieses Schlabberzeugs."

Da bemerkte ich, wie sie möglichst unauffällig ein kleines Fläschchen vom Nebentisch nahm und verstecken wollte. Ich warf mich auf sie und riss es ihr fort. Das Fläschchen war leer, das war wohl der Grund für mein Erwachen. Auf dem Etikett stand Spießikum. Hatte ich noch nie gehört. Trotzdem wusste ich sofort, von wem sie es hatte. Ich zielte mit dem Finger auf sie.

„Du und deine dämliche Heilpraktikerin, hab ich recht?", polterte ich los. „Das habt ihr euch wirklich fein ausgetüftelt."

Betreten senkte sie den Blick.

„Seit wann gibst du mir das schon?"

„Es ist doch nur zu deinem Besten", wich sie mir aus.

„Bist du verrückt?", schrie ich sie an. „Es macht mich völlig gaga."

„Im Gegenteil", murmelte sie, „ich kann so viel besser mit dir zusammen sein."

Ich begann im Zimmer auf und ab zu rennen.

„Aber ich bin erst vierzig, ich will noch was erleben."

„Schon vierzig", sagte sie tadelnd, die Hand erhoben und die Stirn gekraust. „Da sollte man anfangen, an die Gesundheit zu denken. Man muss mit ihr hauszuhalten. Und kürzer treten. In jeder Weise. Ja ja."


Sie sagte es wie eine Oberlehrerin. Auf einmal begriff ich es. Seit Monaten hatte ich bereits das Gefühl, den Kontakt zu mir selbst zu verlieren. Auf dem Weg in die Arbeit döse ich zufrieden im Bus oder lese interessiert eine Krankenkassen-Zeitung, die man mir unaufgefordert zuschickt. Die Leber, ein Spiegel deiner Seele. Stilles Glück mit Topfpflanzen. Früher hatte ich nie etwas gelesen, nur den jungen Dingern auf den Arsch gestarrt, in den Ausschnitt, sonst wohin. Und mich immer über irgendetwas geärgert, ach was, tierisch aufgeregt. Über die Drängelei, über den widerlichen Gestank der fremden Leiber, über meinen faden Job, in dem ich keine Zukunft sah. Doch plötzlich ertrage ich die Tage gleichmütig. Die Schalterstunden mit den genervten Bürgern, meinen unfähigen Chef, meine fetten Kolleginnen mit ihren Plappermäulern. Lächle nur, entdecke das Schöne im Kleinen, im Nebensächlichen, fahre wie in Trance nach Hause, verbringe den Feierabend ans Balkongeländer gelehnt, betrachte am Horizont die gute, alte, tröstende Sonne, während unten auf der Straße sich die Rad- und Autofahrer duellieren, sich anschreien und beleidigen, Jugendliche mir den Finger zeigen, Hundebesitzer ihre Missgeburten auf den Grünstreifen kacken lassen, all das wie durch einen Zauber wunderlich egal. Keine Wut mehr, kein Aufbegehren, kein Mumm in den Knochen. Wie ein Mönch in seiner Klause nehme ich die Tage einfach so hin. Als hätte eine höhere Einsicht meinen Kopf durchblasen und alles ausgefegt, was mal ich gewesen war.


Ich begann alles zu durchwühlen und machte mich auf die Suche. Kampflos würde sie mich nicht kriegen, niemals. Schon nach kurzer Zeit wurde ich fündig. Unter unserem Bett türmten sich Kiloweise Kristalle, grüne, blaue, rote, das Betriebslämpchen eines verdächtigen schwarzen Kastens glomm, Energizer stand drauf, es roch auch komisch, fiel mir auf, sie musste Räucherstäbchen verbrennen, wenn ich zur Tür draußen war. Ich riss das Fenster auf, ließ Luft und Lärm und Leben herein. Aus ihrer Nachttischschublade quoll mir ein Haufen leerer Fläschchen und Packungen entgegen, deren Inhalt sie ganz sicher nicht selbst genommen hatte. Kuschelbär extra, Pantoffelheld Oral, Ganz-der-Meine forte. Ich hätte kotzen können.


Bärbel schlich mir hinterher, beobachtete mich, schien verzweifelt.

„Warum sträubst du dich?", redete sie auf mich ein. „Sei doch einfach so, wie ich es mir wünsche."

Das war stark! Mir schwoll der Kamm.

„Warum bist du nicht so, wie es mir lieber wäre?"

Ihre Lippen wurden sehr schmal. „Natürlich", tat sie schnippisch, „es soll stets nach deinem Kopf gehen."

Ich warf alles weg, was ich finden konnte, ihre Niederlage sollte absolut sein. Tagelang sprachen wir kein Wort miteinander, meine Speisen und Getränke bereitete ich mir selbst.


Jeder Tag brachte mein altes Leben ein Stück zurück. Zuerst gesellte sich die schlechte Laune wieder zu mir, der allgemeine Missmut, mein Blutdruck erhob sich, meine Lippen pressten sich wieder zusammen und das war gut so, ich fand zu mir selbst zurück. Doch wie ich an einem grauen Montag Morgen durchs regennasse Busfenster starre, kommt mir plötzlich ein großartiger Gedanke. Ich sagte mir, das kann ich auch!


Von einem Arbeitskollegen, der nur mitgebrachte Rohkost aus einem Hofladen aß und ein CO²-freies Leben führte, bei dem er selbst Blähungen mied, ließ ich mir einen Heilpraktiker empfehlen, aber einen, der auf der richtigen Seite stand, nämlich der männlichen. Der Kerl war dünn und groß, lächelte wie nicht von dieser Welt, nickte und tat, als verstünde er mich gut. Er schlug den Gong, um sich zu zentrieren, schloss die Augen, hob das Kinn, summte, ließ was weiß ich für Energien durch seinen Körper rieseln, berauschte sich wahrscheinlich am Gedanken an die fette Rechnung, die er stellen würde.


„Hör mal zu, du Pappnase", knurrte ich ihn an. „Ich brauche ein Gegenmittel."

Er linste mich über seinen Schreibtisch aus Indianergeweihter Rotkiefer hinweg an wie ein verschrecktes Reh.

„Äh … Inwiefern?", wollte er wissen.

„Keine Ahnung, eine Art Schlampikum, oder wie man das nennen will."

„Verstehe", meinte er verhuscht.

Ich zog ihn an seinem Streichelzarten Halstuch zu mir herüber.

„Hochpotent", fuhr ich ihn an und er zuckte zusammen.


Der dünne Kerl in seinem roten, selbstgestrickten Tibetschafpulli guckte mich an wie einer, der gerne Bäume umarmt, gab sich aber immerhin Mühe. Er zog ein dickes Buch aus dem Regal, blätterte darin herum, kratzte sich am Kinn, murmelte Fachbegriffe oder vielleicht auch nur das Mantra der Unwissenden und verzweifelt Suchenden. Am Ende stellte er mir alle möglichen Fläschchen und Döschen zusammen, auch Tropfen, Energiesteine und Kraftfeldverstärker waren darunter. Absolut nicht billig, muss ich sagen. Es war mir egal, ich wollte den Sieg, also musste ich aus allen verfügbaren Rohren feuern.


Zuhause angekommen, trennte ich mich gleich von seinen laschen Dosierungsvorschlägen. Winzigkleine Kügelchen, was sollen die schon können? Fortan pfefferte ich es meiner Frau überall rein, streute es über Speisen, tropfte es in Getränke, selbst in die Zahnpasta presste ich Globuli, auf das sie sich diese ins Zahnfleisch massiere, bis ihr Körper und Geist klein beigibt. Unter meine Matratze schob ich sicherheitshalber eine Bleiplatte von der Stärke, dass selbst eine Kernschmelze keine Chance hätte, bis zu mir vorzudringen. Das sollte für die Strahlen ihrer Kristalle oder was sie sonst noch aus dem Hut zauberte, dicke reichen.


Es war unser privates Wettrüsten, denn ich wusste natürlich, sie machte es genauso bei mir. Es wurde ein regelrechter Krieg daraus, ein unerklärter, aber dafür umso verbissener geführter. Verließ einer von uns das Zimmer, um mal ins Bad zu gehen, nutzte der andere sofort die Gelegenheit, um seine Mittelchen aus Dosen, Flaschen und Kanülen anzuwenden. Das meiste trug ich immer bei mir, um ihr keine Gelegenheit zu geben, daran zu manipulieren. In die Erdnüsse, in den Prosecco, in ihren geliebten Joghurt und Heile-heile-Segen-Tee, ganz egal, überall kriegte sie ihre Dosis mit, selbst wenn sie schlief und schnarchte, sich ihr kleiner Mund nur einen Spalt breit öffnete, war ich zur Stelle, ergriff meine Chance und ließ winzige Substanzen in sie hinein fallen.



Nach einigen Wochen hatten wir es beide nicht mehr im Griff, die Lage spitzte sich dramatisch zu. Sie tauchte plötzlich im knappen Fummel auf, mit Push ups, die versuchten, ihren kleinen Busen bis auf Schulterhöhe hinauf zu quetschen und wollte alles auf einmal, ausgehen, Party und unanständige Sachen machen, während ich mich bereits auf zwanzig Uhr fünfzehn freute und gedanklich mit ihrem Strickzeug beschäftigte.


„Nenn mich nie mehr Bärbel", zischte sie mich an. „Ich bin jetzt Barb. Aber nicht irgendeine beschissene Bitch-Barb, sondern jene einzigartige Sharp Barb, die dir das Hirn rauspustet, wenn sie dir näher kommt."

Sie wickelte ihr rechtes, Strapsbestrumpftes Bein um meine Hüfte und zog sich eine Haarsträhne quer über den Mund. Ich schupste sie weg.

„Oswin", hielt ich dagegen, eine spontane und ganz aus dem Bauch kommende Replik. Ein Name, der schon Wochen in mir gereift sein musste.

„Oswin der Verlässliche."

„Du bist so ein Langeweiler", fuhr sie mich an.

„Schau doch mal in den Spiegel, wie du ausschaust", bellte ich aufgebracht zurück, „wie eine vom horizontalen Gewerbe."

Der Teufel lächelte aus ihr heraus. „Dafür werde ich heute Nacht ein wenig Spaß haben."

„Du Schlampe!"

„Du Spießer!"


Türen knallend verließ sie mich, um erst am nächsten Mittag wieder aufzutauchen. Die Haare zerzaust, die Kleidung verrutscht und unvollständig, stakste sie auf hochhackigen Absätzen heran, ihre beschwipste Laune dabei wie eine Siegestrophäe vor sich hertragend.


Ich folgte da gerade einem unwiderstehlichen inneren Zwang und wischte die Küchenschränke mit Essigessenz aus, nachdem ich die Teppiche hinunter in den Hof getragen und gründlich ausgeklopft hatte. Ohne Reinigungsmittel natürlich, ganz umweltschonend. Wie zwei Fremde aus unterschiedlichen Galaxien starrten wir uns an.


„Ich werde dich verlassen", sagte sie, die Nase stolz erhoben und die Augenbrauen ernst zusammengezogen.

„Ja, geh doch in deinen Sumpf!", trotzte ich zurück.



Es war wohl das beste, wer weiß, was wir einander noch angetan hätten. Sie packte und nahm all ihre Sachen mit, auch die Kristalle, Voodoo-Puppen und Zehner-Potenz-Kügelchen. Nach einer Weile verspürte ich keine Lust mehr auf Tee und Fenster putzen, der Kühlschrank füllte sich mit Bier und die Wohnung mit getragener Wäsche. Mein Leben taumelte zurück in die alte, abgestandene Unzufriedenheit und bald riss ich wieder verzweifelt an den klirrenden inneren Ketten, die mich vor allem daran hinderten, endlich jenes Leben zu führen, das mir eigentlich entsprach. Ich wurde wieder ganz ich selbst, hatte keine Freunde und baggerte alles an, was im Prinzip an eine Frau erinnerte. Die Masse macht es letztendlich, nimm Schrot und ballere, was das Zeug hält, das empfiehlt dir jeder Jäger. Es war nichts, womit man angeben konnte, aber es war mein Leben, immerhin.


Vor kurzem traf ich Bärbel auf der Straße, zufällig. Ich war überrascht. Kein Fummel-Outfit mehr, nur noch die graue Maus, in die ich mich mal verliebt hatte auf die mir so eigene verzweifelte Art und Weise. Verlegen blieben wir voreinander stehen und musterten uns.

„Du siehst aus wie früher", sagte ich.

„Du aber auch."

Wir mussten nicht viel reden, um uns wieder sehr vertraut zu fühlen. Zu blöd, wir hatten so gut zueinander gepasst. Jeder war, wie ihn sich der andere zwar nicht wünschte. Von dem er aber auf angenehme Weise glauben durfte, leichtes Spiel mit ihm zu haben. Wir waren einander überlegen, jeder auf seine Weise. Und konnten aneinander dieses großartige Gefühl genießen. Das verband uns auf fast magische Weise.

„Wir hätten uns nicht trennen müssen", sagte ich leise.

„Wohl nicht", murmelte sie.

„Na dann …"


Ein Wochenende sie, eins ich, das ist jetzt unser Deal. Die Cocktails, die wir einander bereiten, werden immer raffinierter. Mit der Zeit bekommt man den Dreh raus, welche Substanzen in die richtige Richtung wirken und welche eher nicht. Wir sind jetzt, würde ich mal sagen, glücklich. Wobei vor kurzem ihre jüngere Schwester zu Besuch war, die sich erstaunlich entwickelt hat. Bärbel hatte einen Termin, den sie nicht verschieben konnte und ihre Schwester bat mich um eine Tasse Tee. Na, wie soll ich sagen, ich konnte irgendwie nicht widerstehen. Jedenfalls, wenn ich woanders eine Tasse Was-auch-immer angeboten bekomme, schütte ich sie unbemerkt in die nächste Vase.

 
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